Rüstungskontrolle ohne Zukunft?
Von Otfried Nassauer
Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit
Einleitung
1. Aus dem Geschichtsbuch in die Krise
Der 8. Dezember 1987 war ein Tag für die Geschichtsbücher. Michail Gorbatschow, der Generalsekretär der sowjetischen KPdSU und Ronald Reagan, der Präsident der USA, unterzeichneten den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces). Nur sechs Monate später, am 1. Juni 1988, trat er in Kraft. Es war der erste Vertrag, der die Supermächte des Kalten Krieges, die USA und die UdSSR, zu einem echten Abrüstungsschritt verpflichtete. Beide verzichteten auf alle landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern. Die Bundesrepublik Deutschland leistete einen eigenen Beitrag, indem auch sie auf ihre Pershing-Ia-Raketen und deren geplante Modernisierung verzichtete. Fast zehn Jahre erbitterter politischer Streit über die Aufstellung modernster sowjetischer SS-20- sowie amerikanischer Pershing-II-Raketen und landgestützter Marschflugkörper in Europa endeten mit einem überprüfbaren Abrüstungsabkommen – ein Novum. Bis zum 1.Juni 1991 wurden insgesamt 2.694 sowjetische und amerikanische nukleare Trägersysteme zerstört - von der je anderen Seite überwacht.
Der INF-Vertrag und seine rasche, verlässliche Umsetzung durch Washington und Moskau trugen wesentlich zur gegenseitigen Vertrauensbildung während der Endphase des Kalten Krieges bei. Dies schuf - zusammen mit der zuende gehenden Blockkonfrontation - ein konstruktives politisches Umfeld, in dem bald weitere bi- und multilaterale Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge zustande kamen: 1990 wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) fertiggestellt, in dessen Folge NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten mehr als 60.000 konventionelle Großwaffensysteme abrüsteten. Der START-1-Vertrag zwischen Moskau und Washington begrenzte 1991 die nuklearen Langstreckenwaffen mit mehr als 5.500 Kilometer Reichweite. Noch im gleichen Jahr wurden durch das KSE-1a Abkommen auch die nationalen Mannschaftsstärken der Streitkräfte all der Staaten begrenzt, die der NATO und dem Warschauer Pakt angehörten. 1993 folgten die weltweite Konvention über ein Verbot und die Zerstörung chemischer Waffen (CWC) sowie mit dem START-2 ein weiterer Vertrag, der eine Reduzierung der strategischen Atomwaffen in Russland und den Vereinigten Staaten zum Ziel hatte.
Vertrauensbildende Maßnahmen und Verifikationsvereinbarungen kamen hinzu: Der Vertrag über den Offenen Himmel ergänzte 1992 die Verifikations- und Informationspflichten des KSE-Regimes und ermöglichte den Mitgliedern Aufklärungsflüge über dem Territorium ihrer früheren Kontrahenten. Später verpflichtete das Wiener Dokument, ein Übereinkommen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM), die Mitglieder der OSZE 1999 zum gegenseitigen Informationsaustausch über ihre Streitkräfte, Militärhaushalte und Zukunftsplanungen.
Mit dem INF-Abkommen begann eine Phase, in der Rüstungskontrolle und Abrüstung zu einem wesentlichen Mittel der bi- und multilateralen Ausgestaltung internationaler Beziehungen wurden. Als Instrumente eines effizienten Multilateralismus trugen sie dazu bei, die Unwägbarkeiten der politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa kalkulierbarer zu machen und sicherheitspolitische Stabilität zu garantieren. Bis zum Ende der neunziger Jahre wirkten sie nach. Bestehende Abkommen wie das KSE-Regime wurden weiterentwickelt, so zum Beispiel 1999 in Form des Angepassten KSE-Vertrages (AKSE). Ergänzende Abkommen, wie das Wiener Dokument, wurden neu ausgehandelt. Insbesondere Europa, das rund ein halbes Jahrhundert von der Blockkonfrontation geprägt gewesen war, profitierte von den neuen Regelungen. Nach Jahrzehnten gegenseitigen Misstrauens garantierten diese eine bis dahin nicht gekannte Transparenz, Stabilität und Vorhersehbarkeit. Sicherheit in Europa – so zeigte sich – konnte auch miteinander und nicht nur voreinander gestaltet werden.
Zwanzig Jahre nach dem INF-Vertrag bietet sich ein fast entgegengesetztes Bild. Die Fachleute sind sich weitgehend einig, dass die Rüstungskontrolle in einer Krise steckt, zumindest aber eine solche droht. Geltende Verträge werden infrage gestellt, neue nicht mehr ausgehandelt oder ratifiziert. Das rüstungskontrollpolitische Acquis erodiert. Antworten auf drängende Weltordnungsfragen werden kaum noch mittels Rüstungskontrolle und Abrüstung gesucht. Erfolgversprechende neue Initiativen für vertraglich vereinbarte Abrüstung und Nichtverbreitung sind zur Mangelware geworden.
Verhandlungen über Verifikationsmechanismen für das B-Waffen-Verbot sind gescheitert. Gespräche über ein vertragliches Verbot der Produktion von spaltbaren Materialen für Kernwaffen (FMCT) oder der Aufrüstung im Weltall kommen nicht in gang. Seit Jahren fertig ausgehandelte und bereits unterzeichnete Verträge, wie der AKSE-Vertrag, der START-2-Vertrag oder der atomare Teststopp-Vertrag (CTBT) treten nicht in Kraft, weil sie von wichtigen Vertragsparteien nicht ratifiziert werden. Die USA haben den ABM-Vertrag gekündigt, da er die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen begrenzte. Ende 2009 endet die Gültigkeitsdauer des START-1-Vertrages. Ob es einen Nachfolgevertrag für diese Vereinbarung und den 2012 endenden Moskauer SORT-Vertrag geben wird, ist ungewiss. Russland droht damit, das bestehende KSE-Regime infrage zu stellen, wenn der AKSE-Vertrag von den NATO-Staaten nicht bald ratifiziert wird. In Moskau und Washington wurden Stimmen laut, die den INF-Vertrag kündigen wollen. Selbst der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), in Deutschland besser als Atomwaffensperrvertrag bekannt, bleibt von dieser Krise nicht verschont, obwohl er als das wichtigste Instrument zur Verhinderung der weiteren Verbreitung nuklearer Waffen betrachtet wird. Die bislang letzte Überprüfungskonferenz scheiterte 2005 und blieb ohne jedes Ergebnis. Für die nächste Überprüfungskonferenz, 2010, kann ein erneutes Scheitern nicht ausgeschlossen werden.
Hat die Rüstungskontrolle als Instrument der internationalen Politik, als Mittel der Ausgestaltung von Weltordnung ausgedient? Waren die Blütejahre der Rüstungskontrolle lediglich ein Intermezzo in der internationalen Politik, das half, den Niedergang der Sowjetunion und des Warschauer Paktes zu managen? Mangelt es der Staatenwelt an einem genuinen Interesse an Rüstungskontrolle, Abrüstung und effizientem Multilateralismus? Können andere Instrumente an die Stelle der Rüstungskontrolle treten und ähnliche ordnungspolitische Funktionen übernehmen? Wer nur die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts betrachtet, könnte meinen, dass dem so sei.
Und doch wäre es wohl ein großer Fehler, die vertraglich vereinbarte Rüstungskontrolle und Abrüstung als Steuerungsinstrument der internationalen Beziehungen vorschnell abzuschreiben. Der Verlust an Steuerungsmöglichkeiten wäre enorm, würden das rüstungskontrollpolitische Acquis aufgegeben und das rüstungskontrollpolitische Instrumentarium nicht länger genutzt. Vertragliche Rüstungskontrolle als Form der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ist und bleibt ein wichtiges Instrument, wenn Multilateralismus effizient zur Gestaltung von Weltordnung eingesetzt werden soll. Rüstungskontrolle stärkt die Rolle des Rechts in den internationalen Beziehungen. Bilaterale Rüstungskontrollvereinbarungen zwischen Starken können multilaterale Vereinbarungen unter Einbeziehung von Schwächeren erleichtern. Multilaterale Rüstungskontrolle bindet auch die Starken. Die naturrechtliche Vorstellung vom Recht des Stärkeren wird eingehegt und damit ein Beitrag zur Zivilisierung zwischenstaatlicher Beziehungen geleistet.
Gerade Europa hat auch künftig ein signifikantes Interesse an der vertraglich vereinbarten Rüstungskontrolle. Die ausgeklügelten Regelungswerke der konventionellen und nuklearen Rüstungskontrolle in Europa garantieren zusammen mit den geltenden Vereinbarungen über Verifikation, Information und den Transparenzverpflichtungen, dass das militärische Planen und Handeln der europäischen Staaten auf Gegenseitigkeit kalkulierbar und vorhersehbar bleibt. Es gibt damit weniger Anlass zu Misstrauen.
Trotz der oft beschworenen Krise der Rüstungskontrolle ist es richtig zu fragen, wie Abrüstung und Rüstungskontrolle neu belebt werden können. Vertraglich vereinbarte Rüstungskontrolle und Abrüstung können auch künftig wichtige Instrumente der Ausgestaltung von Weltordnung sein. Für eine Weltordnung, die durch effizienten Multilateralismus und eine Stärkung der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen geprägt sein soll, sind sie sogar unersetzlich. Nur wer glaubt, Weltordnung könne künftig unilateral auf Basis des Rechts des Stärkeren gestaltet werden, kann behaupten, ohne die Steuerungsmöglichkeiten und das Instrument der Rüstungskontrolle auskommen zu können. Letztlich kann nur der Stärkste behaupten, dass dies eine Alternative sei. Noch ist deswegen keineswegs entschieden, ob die Jahre der schnellen rüstungskontrollpolitischen Fortschritte 1987-1993 oder die Jahre der Krise der Rüstungskontrolle seit 2001 - historisch betrachtet - als Intermezzo zu werten sind.
Entschieden wird dies wohl erst nach den Präsidentschaftswahlen in Russland und den USA. Wesentliche Weichen im Blick auf die Zukunft der Rüstungskontrolle müssen von den künftigen Administrationen in Washington und Moskau gestellt werden. Dabei drängt die Zeit. Im Frühjahr 2009 werden auf einer Vorbereitungskonferenz letzte Pflöcke für die Überprüfungskonferenz des NVV im Jahr 2010 eingeschlagen. Das Verhältnis von Nichtverbreitung und Abrüstung muss dann neu und tragfähig justiert werden, soll der NVV nicht ausgehöhlt und substantiell geschwächt werden. Bis Ende 2009 muss über die Zukunft des START-1- Vertrages entschieden sein. Damit verbunden wird wohl die Entscheidung über die Zukunft des Moskauer SORT-Vertrages. Beides zusammen stellt die Weichen für die Zukunft im strategisch-nuklearen Bereich. Über Wohl und Wehe der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, das KSE-Regime, wird voraussichtlich ebenfalls in den Jahren 2008 und 2009 entschieden.
Also bleibt nur wenig Zeit. Die wahlkämpfenden Hauptakteure in Washington und Moskau haben innenpolitische Prioritäten. Sie werden – von Ausnahmen zur Schadensbegrenzung und vielleicht einem Versprechen weiterer Reduzierungen der strategischen Nuklearwaffen abgesehen - kaum substantielle neue Initiativen lancieren und sich aus wahltaktischen Gründen keine Blöße geben wollen.
Bis Mitte 2009 stellen sich den Befürwortern von Rüstungskontrolle und Abrüstung damit gleich mehrere Aufgaben: Erstens gilt es zu verhindern, dass sich die Rahmenbedingungen für Rüstungskontrolle und Abrüstung weiter verschlechtern. Zweitens kann die Zeit genutzt werden, um neue rüstungskontrollpolitische Initiativen zu sondieren und vorzubereiten. Und schließlich gilt es, konstruktiv Vorsorge dafür tragen, dass die neuen Administrationen in Moskau und Washington rüstungskontrollpolitischen Themen rasch wieder größere Beachtung schenken können.
Dieses Diskussionspapier untersucht deshalb in einem ersten Schritt Charakter und Ursachen der Krise der Rüstungskontrolle. In einem zweiten Schritt geht es darum, mögliche Wege aus der Krise zu identifizieren. Schließlich soll gefragt werden, welche spezifischen Beiträge in Deutschland zur Überwindung der Krise der Rüstungskontrolle geleistet werden können. Die möglichen Initiativen, die dabei diskutiert werden, haben Beispielcharakter, schließen andere Optionen nicht aus und orientieren sich vorrangig an Fragen, die für die europäische Sicherheit von Belang sind. Der Fokus liegt auf den Möglichkeiten, die klassischen Themen der Rüstungskontrolle und Abrüstung wieder zu beleben. Optionen, die Nichtverbreitungsregime zu stärken, denen auch in den vergangenen Jahren deutlich größere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, finden nur insoweit Erwähnung wie sie zum Verständnis der Gesamtzusammenhänge erforderlich sind.